Great Expectations
David Lean, GB, 1946o
Der als ärmlich Dorfjunge aufgewachsene Pip kommt dank einem mysteriösen Wohltäter in London zu Wohlstand, während seine unerwiderte Jugendliebe von einer reichen Exzentrikerin zur kühlen Herzensbrecherin erzogen wird. Als sich ihre Wege immer wieder kreuzen, stellt sich immer dringlicher die Frage, ob sie je die Prägungen und seltsamen Fügungen ihrer Jugend je hinter sich lassen können. – Nach dem Roman von Charles Dickens.
Der Brite David Lean (1908–1991) ist heute fast nur noch als Regisseur monumentaler Historienfilme wie Lawrence of Arabia (1962) und Doctor Zhivago (1965) bekannt. Dabei liegt seine kreativste Phase in den 1940er und frühen 1950er Jahren, als er mit hoher Kadenz Schwarzweissfilme vorlegte, die sprühen vor erzählerischem und visuellem Einfallsreichtum. Zu deren schönsten gehören die Charles-Dickens-Verfilmungen Great Expectations und Oliver Twist (ab 17. Juli auf cinefile). Der erste der beiden handelt von einem doppelten Sozialexperiment: Der ärmlich aufgewachsene Dorfjunge Pip erfährt mit zwanzig, dass ihm ein anonymer Wohltäter einen Wohnsitz in London, ein unbefristetes Einkommen und damit das sorgenfreie Leben eines «Gentleman» zugedacht hat, während Pips unerwiderte Jugendliebe Estella als Adoptivtochter einer sitzen gelassenen Exzentrikerin zur Rächerin an den Männern herangezogen wird. Die beiden seltsamen Schicksale machen Pip vorerst zum ziellosen Snob, Estella zur kalten Herzensbrecherin und werfen die Frage auf, ob man in einer gnadenlosen Klassengesellschaft wie der britischen des 19. Jahrhunderts je der sozialen Determinierung entkommt, als sich die Wege des verkappten Paars mehrfach verzweigen und überkreuzen. Natürlich ist die Frage zugleich zeitlos – und so packend, weil Lean bei ihrer Dramatisierung vom sozialen Röntgenblick und maliziösen Humor des Erzähl- und Dialoggenies Dickens profitieren kann, dessen zweitletzten Roman er aber auch bestechend zu komprimieren weiss. Am augenfälligsten sind aus heutiger Sicht die fantastischen Darsteller:innen, die stilisierten Kulissen, Kostüme und Frisuren und die expressive Schwarzweissfotografie, die sich – ganz in der Tradition deutscher Stummfilme und des Film noir – um Naturalismus gar nicht erst bemühen. Nein, Great Expectations ist pure filmische Theatralik und gerade deshalb frappierend modern. Wer virtuose Verfremdungseffekte mag, kann sich kaum sattsehen daran.
Andreas Furler