Moving
Shinji Sōmai, Japan, 1993o
Die elfjährige Renko muss mitansehen, wie sich ihre Eltern trennen. Doch so leicht gibt sich das gewitzte Mädchen nicht geschlagen. Sie belehrt und bezirzt den Vater, verhandelt mit der Mutter, rebelliert in der Schule, paktiert mit einem Nachbarsbub. Schliesslich nötigt sie die Eltern zu einem Ausflug an einen Ort, wo sie zu dritt glücklich waren. Dort macht sie in der Nacht des Feuerfestes selber eine Wandlung durch.
Auch wer sich seit Langem beruflich mit Filmen beschäftigt, erlebt manchmal noch Liebe auf den ersten Blick. Shinji Somai ist so ein Fall. Fast 25 Jahre nach seinem Krebstod mit 53 wird dieser begnadete japanische Beobachter intimer Beziehungen, der zwischen 1980 und 2000 dreizehn Filme realisierte, im Westen gerade erst entdeckt. Nach der Teenagerstudie Typhoon Club (demnächst auf cinefile) ist Moving (Umzug) von 1993 vielleicht sein grösster Wurf. Es ist die Geschichte des elfjährigen Mädchens Renko aus Kyoto, das als Einzelkind die Trennung seiner Eltern verkraften muss. Das klingt nach grossem kleinem Drama, und tatsächlich gehört Moving zu jenen Filmen, die wohl kaum jemand ohne Augenwasser übersteht. Zugleich aber sprühen diese zwei Stunden vor Lebendigkeit, Schalk und einem Gefühl für die geheimnisvolle Logik von Lebenslinien. Das weite Spektrum verdankt sich einerseits einer bis zu kleinsten Nebenfigur stimmigen Besetzung, aus der Tomoko Tabata als Renko herausragt. Alles an ihr ist ständig in Bewegung, die blitzschnellen Beine, die hellwachen Augen, der Geist und das Mundwerk, das gegen das fatale Trennungsvorhaben der Eltern aufbegehrt, diese belehrt, unterläuft, bezirzt und schliesslich zu einem gemeinsamen Wochenende bei einem Feuerfest nötigt, wo die drei einst glückliche Tage verbrachten. Die zweite Trumpfkarte von Moving ist der Einfallsreichtum, mit dem Somai die Handlung stets so einfach wie möglich, will sagen: vollkommen durchdacht in Szene setzt und dabei die Register wechselt. Aufgekratztheit schlägt in Katzenjammer um, Wut in Melancholie, um mit einem Schnitt weggefegt zu werden, bevor sich Sentimentalität einnisten kann. Doch Somai geht noch weiter und riskiert im letzten Drittel eine lange nächtliche Sequenz, in der Renko ganz für sich ist und eine stille Wandlung durchmacht, was den Weg zu einem umwerfenden doppelten Finale zwischen Traum und Tag öffnet. Damit genug? Eben nicht: Warten Sie ab, was alles sich rundet und in die Zukunft fortspinnt, als schon der Abspann läuft. Schlicht zauberhaft.
Andreas Furler